SPIELSTIL Rezension
Lesezeit: 5 Minuten
Ein Spiel entwickelt von Gavan Brown, Martin Wallace, Matt Tolman
erschienen bei Giant Roc
Gerne würde ich hier nun eine Abhandlung zur industriellen Revolution schreiben. Euch erzählen, was in den britischen West Midlands (dem Handlungsort von Brass Birmingham) zwischen 1770 – 1870 alles passiert und auch die menschlichen Schicksale dahinter aufzeigen. Denn es muss teilweise wahrlich erschreckend gewesen sein, wenn einen über das eigene Leben hinweg bis dahin unvorstellbare Technik und die damit verbundene Verschmutzung überrollte.
Doch gleichzeitig scheint die Zeit unglaublich spannend. Denn es wurden nicht nur viele neue Berufszweige geschaffen, sondern auch alteingesessene einfach irrelevant. Und Brass Birmingham beschäftigt sich zumindest mit einem Teil davon, welches ein essenzieller, zentraler Bestandteil ist. Denn das Versorgungsnetz überholt sich selbst und während im ersten Abschnitt noch Kanäle und die sich darauf befindlichen Schiffe den kompletten Transport übernehmen, ist diese für den zweiten Teil einfach komplett irrelevant. Denn dann erobern Eisenbahnen das Land. Man muss sich an neues Gewöhnen und sich erfolgreich untertan machen, um nicht abgehängt zu werden. Klingt spannend, das meine ich doch auch. So sehr, dass ich mich demnächst geschichtlich mit dieser Zeit beschäftigen möchte. Solltet ihr hierzu ein gutes Buch kennen, bin ich für diesen Tipp dankbar.
(Clive Staples Lewis)
Hochkomplexe Spiele brauchen hochkomplexe Regeln. Jedoch nicht Brass Birmingham, welches bis auf ein paar Sonderfälle nicht allzu schwer zu erlernen ist. Für alle Aktionen muss man einfach eine der Handkarten abgeben. Egal also, ob wir Fabriken bauen, Orte verbinden, unsere Technologien verbessern, Waren verkaufen, einen Kredit aufnehmen oder unsere Handkarten durch Joker aufpeppen wollen. Tricky wird es nur durch die Entscheidung, welche Handkarten wir zurückbehalten. Und natürlich, wie wir die nötigen Rohstoffe heranschaffen.
Denn von diesen gibt es insgesamt vier. Britische Pfund, Kohle, Eisen und Bier. Dabei haben die letzten drei ihre Eigenheiten, was ihren Transport angeht. Während Kohle und fremdes Bier über das ausgebaute Netzwerk transportiert werden müssen, muss man sich bei Eisen und eigenem Bier nicht so viele Gedanken machen. Dabei ist Timing stets entscheidend. Wie kann ich kurzfristig die richtigen wirtschaftlichen Entscheidungen treffen und wann sollte ich mich doch lieber auf Langfristiges besinnen?
Stück für Stück bauen wir so das Netzwerk und die neuen Industrien aus, bis alle Handkarten aufgebraucht sind. Passiert dies das erste Mal, bekommen wir nicht nur Siegpunkte, sondern müssen auch alle veralteten Technologien entfernen, sodass im zweiten Zeitabschnitt die Eisenbahnen und bessere Industrien die Überhand gewinnen können.
Die komplette Spielregel zu Brass Birmingham findet ihr hier. (externer Link)
(Muhammed Yunus)
Den Kern von Brass bilden eigentlich wenige Regeln. Zumindest für ein derart komplexes Monster. Die Schwierigkeit ergibt sich erst durch die vielen Möglichkeiten, bei denen ich den Überblick bewahren soll. Denn die Mechanismen sind allesamt recht thematisch und dadurch leicht zu erlernen. Und hat man sich erst einmal an die Transportmöglichkeiten gewöhnt, läuft alles wie am Schnürchen. Zumindest so lange, bis man wieder mal kurz am Verzweifeln ist, weil man sich einfach nicht entscheiden kann, was nun am besten wäre.
Besonders toll ist, dass ich mich stets dazu durchringen muss, abzuwägen, ob es sich nun lohnt, Rohstoffe meiner Mitspieler zu verwenden. Während es bei Bier noch einfach ist – der Rohstoff ist meist Mangelware und man grätscht seinen Gegnern oft erfolgreich in die Pläne – lohnt es sich bei Eisen und Kohle schon mal etwas mehr Aufwand zu betreiben. Denn sind alle Rohstoffwürfel entfernt, wird die Industrie gedreht und unser Mitspieler bekommt nicht nur wertvolle Siegpunkte, sondern steigert gleichzeitig seinen Ertrag. Hier muss also immer wieder geistig die Waagschale zu Rate gezogen werden.
Ich liebe Brass Birmingham für seinen Ablauf. Die Verzweiflung wird von Erfolgserlebnissen abgelöst, nur um kurz darauf wieder für Kopfschütteln und leichte Panik zu sorgen. Natürlich klingt das jetzt dramatischer, als es ist, aber für mich ist das Spiel eine Achterbahn der Gefühle und zieht mich so und thematisch voll in seinen Bann. Jede meiner Entscheidungen fühlt sich wichtig an und ihre Auswirkungen werde ich noch später zu spüren bekommen. Zusätzlich ist es natürlich optisch toll, wie sich die Spieler auf der Karte immer wieder ausbreiten. Ein solches Aufbauspiel fasziniert mich bereits lange Zeit und füllt mich auch heute noch mit einem wohligen Gefühl.
Als einziger Wermutstropfen stellte sich für mich die Produktion der Papp-Token heraus. Diese sind selbst bei vorsichtigem Lösen an einigen Stellen unsauber eingerissen.
Außerdem hätte die Farbgebung der Gebiete ruhig etwas deftiger ausfallen dürfen. Klar fügen sich die gewählten Farben besser in die wundervolle Grafik der Landschaft, doch hätte man sich manch Sucherei ersparen können, wenn man die Region hätte besser einschätzen können.
Brass Birmingham ist für mich der perfekte Mix. Es ist anspruchsvoll, aber nicht übertrieben Komplex. Es sorgt in jedem Zug für wichtige Entscheidungen, ohne zu überfordern. Außerdem lässt es sich auch perfekt thematisch aus dem Bauch heraus spielen, sodass man auch hier erfolgreich um den Sieg kämpft. Ein tolles Gesamtpaket, das nicht nur toll aussieht, sondern sich auch äußerst befriedigend anfühlt. Einfach super! Damit steht es für mich ganz oben auf dem Siegertreppchen zum deutschen Spielepreis.
Brass Birmingham von Gavan Brown, Martin Wallace, Matt Tolman
Mein perfektes Spiel. Jederzeit bereit. Einfach um 3 Uhr Morgens wecken und sagen, dass Brass Birmingham schon aufgebaut ist und schon springe ich auf und renne zum Tisch.
Christian:
Hinweis:
Wir haben das Rezensionsexemplar ohne Auflagen gratis vom Verlag bekommen.
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RALF BRECHTEL
Hi, bist ja total begeistert. Muss es doch mal auf den Tisch bringen. Es kommt nicht oft vor, das ein Spiel so bei einem einschlägt. Bei uns war das vor so 2 Jahren Legendary Encounter Alien.
10 Punkte, besser geht coop deckbuilding nicht.
Gruss
Ralf
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