SPIELSTIL Rezension
Lesezeit: 7 Minuten
Ein Spiel entwickelt von Jay Cormier, Shad Miller
erschienen bei Corax Games
Harrow County – der Name könnte dem einen oder anderen Comic Connaisseur bekannt sein. Das Spiel beruht auf dem gleichnamigen Comic von Cullen Bunn (Autor) und Tyler Cook (Illustrator). Allen anderen, willkommen in Harrow County, wo die Immobilienpreise ziemlich sicher dauerhaft im Keller sind und kein Nachbar dem anderen über den Weg traut (und das auch nicht sollte).
„Harrow County: ein Spiel makabrer Zwietracht“ ist ein strategisches Brettspiel für 1 bis 3 Spieler, das ich im Expertenbereich ansiedeln würde. Entwickelt von Jay Cormier und Shad Miller und veröffentlicht von Corax Games. Für eine Partie braucht man mindestens 45 Minuten oder deutlich mehr, je nachdem, wie oft man sich von den düsteren Ereignissen ablenken lässt.
So sieht der Start einer Partie aus.
(Unbekannt)
Harrow County ist ein asymmetrisches Strategiespiel. Darin übernimmt man die Rolle einer Fraktion, die die andere(n) bekämpft. Jede der Fraktionen hat einzigartige Ziele und Fähigkeiten. Die beiden Hauptfraktionen sind die „Beschützer“ und die „Familie“. Nimmt man Kammi in die Partie auf, ersetzt man entweder die Beschützer oder die Familie. In einer Partie zu dritt kommt die Hexe Hester zum Zug.
“Beschützer” und “Familie” haben eine sehr verwandte Rundenstruktur. Wer an der Reihe ist dreht ein bisher nicht verwendetes Einmachglas um, mit dem man die Art der Aktion auswählt. Mit den Aktionen erzeugt man Einheiten (sog. Spuke), bewegt diese oder sich selbst (aka die Legende), greift an oder aktiviert die eigene Spezialfertigkeit. Punkte gibt es für zerstörte gegnerische Spuke, gerettete Einwohner (Beschützer) oder zerstörte Häuser (Familie) und wer den Baum, das zentrale Spielfeld, am Ende einer Runde belegt hat. Eine Runde endet wenn beide Parteien jeweils drei Einmachglässer umgedreht haben.
Die Einmachgläser und der „Punkteteller“
Ist Hester mit von der Partie, kommt sie immer am Ende der Runde. Sie zieht ihre Kraft aus dem Baum und lässt Wurzeln über das Spielfeld wandern. Sie kann gegnerische Spuke infizieren und diese dann bewegen. Ihr Ziel ist es Einheiten zu verschlingen.
Eine Partie Harrow County geht über eine variable Anzahl von Runden. Sie endet wenn eine der Hauptfraktionen 7 oder mehr Punkte erreicht oder Hester 6 Einheiten verschlungen hat.
(Unbekannt)
Wer düsteren Südstaaten-Grusel mit Hexen, Geistern und einem zarten Hauch von Mord und Totschlag mag, der ist bei Harrow County genau richtig. Die gleichnamige Comicserie erzählt die Geschichte von Emmy, einem nur scheinbar normalen Mädchen, das feststellt, dass sie die Wiedergeburt der berüchtigten Hexe Hester ist. Ihre Kindheitsträume, in denen sie ahnungslose Dorfbewohner grillt wie Marshmallows über’m Lagerfeuer, mögen doch nicht nur Zeichen von schlechter Schlafhygiene sein.
Das Dorf (aka die Familie) möchte sie am liebsten am Baum baumeln sehen. Genau dort, wo sie die Hexe Hester vor etwa 18 Jahren aufknüpften und Emmy als Säugling kurze Zeit darauf von ihren Zieheltern gefunden wurde. Der Konflikt zwischen diesen Parteien ist der Ausgangspunkt von Harrow County. Emmy hat Kräfte und “besondere” Verbündete; auf der anderen Seite ist die Familie, sie möchte ein erneutes Erstarken der Hexenbrut verhindern.
Corbin einer aus der lieblichen Familie
Das Setting, die Atmosphäre und der Look haben bei mir völlig ins Schwarze getroffen. Der Untertitel “Ein Spiel makabrer Zwietracht” trifft mit “makaber” den Kern der Sache sehr gut. Wer sich an Dingen, wie dem “gehäuteten Jungen”, den man auch spielen kann, stört, sollte die Finger von Harrow County lassen, alle anderen unbedingt weiter lesen.
Die Legende der Beschützer ist in dieser Partie der hautlose Junge
Der Einstieg in Harrow County war für mich etwas seltsam bis holprig. Die Regeln sind in Kapiteln unterteilt. Die ersten drei der fünf umfassen alles für das Spiel zu zweit. Die Idee dabei ist es, einen Häppchenweise an das Spiel heranzuführen. Ich finde das nur sehr bedingt gelungen. Das erste Kapitel ist der größte Brocken. Hat man den hinter sich kennt man die wichtigsten Konzepte. Kapitel zwei und drei bringen nur noch ein paar Erweiterungen. Sie machen den Braten ehrlich gesagt nicht besonders fett. Leider sind sie nicht nur additiv, sie überschreiben bereits Erlerntes wieder. Wer also nachlesen möchte, ist gerne mal am blättern, um das richtige Kapitel zu finden. Zudem sind die Regeln teilweise so aufgeblasen, dass ich mir echt die Augen reiben musste, und unsicher war ob das jetzt ernst gemeint ist.
Kapitel 4 bringt Kammi ins Spiel, sie ersetzt eine der beiden Hauptparteien und Kapitel 5 bringt Hester als dritte Fraktion. Diese Aufteilung ergibt Sinn, man kann das als Erweiterungen begreifen.
Die Familie betreibt Bagbuilding und kann sich so auf bestimmte Aktionen konzentrieren.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob sich der Aufwand lohnt diesen Regelwust durchzuackern? Ich kann das mit einem klaren Ja beantworten! Harrow County hat uns in jeder Partie und mit jeder Konfiguration Spaß gemacht. Die Parteien haben zwar ähnliche Ziele, der Weg dahin ist doch sehr unterschiedlich und das auf gut gemachte Weise. Harrow County strotzt vor Varianz. Schon allein die beiden Hauptfraktionen bringen jeweils mehrere Charaktere (Legenden) mit, die unterschiedliche Fähigkeiten haben. Dabei kam es uns aber oft so vor, dass es die Familie einen Hauch schwerer hat als die Beschützer. Balancing bei asymmetrischen Spielen ist nicht einfach, trotzdem konnten wir über diese Schwäche hinwegsehen.
Die Beschützer bauen ihr Tableau aus und verbessern damit ihre Aktionen.
Wer als dritter am Tisch Hester spielen möchte sollte schon ein paar Partien Harrow County hinter sich gebracht haben. Ich fand den Einstieg recht anspruchsvoll. Die Rolle erschließt sich erst nach und nach. Sie fühlt sich wie eine sehr gut integrierte Erweiterung des Spiels an. Sie ist ein dauernder Störer für die beiden anderen Parteien, so kann sie beispielsweise deren Spuke infizieren und ebenfalls bewegen. Das ist im Spiel originell umgesetzt, ein Spuk wird infiziert in dem man ihm buchstäblich eine Schlange ins Ohr steckt.
Zwei Spuke haben jeweils keinen Floh im Ohr, sondern eine von Hesters Schlangen.
Eine Partie Harrow County kann je nach Lust und Laune ziemlich unterschiedlich verlaufen. Man wird nicht direkt gezwungen offensiv zu spielen, obwohl ein Kampf sich oft lohnt. Gerade zu Beginn kann jeder ziemlich vor sich hin puzzeln. Man ist jedoch gut beraten genau zu schauen, welchen Weg die andere Fraktion einschlägt. Wer sich heimlich in den Baum setzt und “wartet” bekommt am Ende der Runde einen Punkt geschenkt. Bei 7 Punkten bis zum Sieg ist das ein guter Batzen. Da sind körperliche Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Überhaupt kann eine Partie auch sehr schnell zu Ende gehen. Harrow County ist nicht abendfüllend. Mir gefällt die Kombination aus Anspruch im Spiel und der Kürze der Partie.
Wenn man Harrow County rezensiert kommt man natürlich nicht umhin, über das offensichtliche Gimmik des Spiels zu schreiben. Der in die Spielschachtel integrierte Würfelturm. Er stellt den im Comic als auch im Spiel zentralen und schicksalhaften Baum dar. Man braucht ihn für Kämpfe oder Hester kann den Baum aktivieren. Während des Spiels sammelt man eigene Stärkewürfel im Schlachtfeld, der kleinen Schachtel vor dem Auswurf des Turms. Wer angreift wirft alle Stärkewürfel aus dem Schlachtfeld in den Baum. Der ist so gefertigt, dass nur ein Teil der Würfel wieder herausfällt. Ein Angriff ist nur erfolgreich, wenn mehr Würfel des Angreifers aus dem Baum kommen. Ein schöner Mechanismus, um etwas Zufall in den Kampf hineinzubringen. Einziger Wermutstropfen: Das Schlachtfeld sollte die Würfel auffangen. Das klappt eigentlich nie, ganz egal wie man es hinstellt.
Der Baum (Würfelturm) in Action.
Harrow County von Jay Cormier, Shad Miller
Harrow County: Ein Spiel makabrer Zwietrat ist ein tolles Spiel für alle, die asymmetrische Strategie mit einer starken Thematik mögen. Das Balancing kann sich etwas kippelig anfühlen. Die Regeln sind etwas eigenartig verfasst, aber wenn du einmal drin bist, bietet es eine spannendende Spielerfahrung.
Falls du also Lust auf ein bisschen Familienfehde mit Geistern und Hexerei hast, dann ist „Harrow County“ genau das richtige Brettspiel für dich.
Robert:
Hinweis:
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Lieber Spiele mit Interaktion als stundenlanges solitäres Tüfteln. Gerne auch komplexes. Eher eine lange Partie als viele kurze. Kooperativ ist fein, wenn man sich nicht gespielt fühlt - Rollenspieler - Brettspielsammler mit Hang zum Minimalismus Ansonsten: Hobbykoch und ProfiEsser - softwarebegeistert - Sportlaie auf dem Mountainbike - Musikkonsument
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